Erzählanfang


Ich wollte einmal meine Worte ausgeschrieben zu Papier betrachten und so sitze ich nun an meinem Schreibtisch mit meiner neuen Lampe, sie ist der Grund warum ich hier sitzen kann, und denke an den Sommer. Den kommenden, meine ich. An einem Tag werde ich mir ein Auto mieten, habe ich beschlossen. Mit diesem Auto fahre ich dann mal in die Weinberge oder an irgendeinen schönen Platz im Grünen. Vielleicht nehm ich dann ja auch jemanden mit, den ich wirklich mag. Ich weiß noch nicht, wer das sein könnte, aber so stelle ich es mir vor. Dann könnten wir zu zweit einfach rumfahren, auf einer Wiese sitzen, Wein trinken und uns lebendig und frei fühlen. Vielleicht wären wir sogar verliebt, immerhin ist es Sommer. Dann vergessen wir die Zeit und wenn wir zurück fahren dämmert es schon. Das Auto könnte ja auch ein Cabrio sein und auf dem Rückweg ist es dann noch so warm, dass wir das Dach einfach unten lassen und unsere Gesichter in so schönem Nachtlicht von den Straßenlaternen leuchten.
Weil wir so verliebt sind und weil es auch in der Nacht noch so heiß bleibt, brechen wir ins Freibad ein, ziehen alle unsere Kleider aus und springen zusammen ins Wasser. In meinem Zimmer ist die Heizung kaputt, deswegen ist es auch kein Wunder, dass ich bereits das dritte Glas Rotwein leergetrunken hab. Rotwein schmeckt mir in letzter Zeit besonders gut, da ich jetzt nicht mehr ausgehe und auch sonst keine sozialen Kontakte pflege. Das ist aber nicht so schlimm. So habe ich mehr Zeit darüber nachzudenken, wie wohl ein von mir eigens gestalteter Aufkleber aussehen würde. Das ist ein ganz großer Traum von mir: Ein Aufkleber, der für mich als Person stehen würde. Irgendein cooles Zeichen, eventuell mit nem Schriftzug oder so. Den sich dann alle anderen unbedingt auf ihre Rechner und Kleiderschränke und Musikanlagen kleben wollen, aber niemand wüsste, wer ich wirklich bin. Denn das darf man nicht falsch verstehen, ich möchte nicht bekannt sein oder sowas. Ich wäre am liebsten ein ganz großes Geheimnis.
Mir ist es eher unangenehm, wenn Leute mich erkennen oder auf der Straße ansprechen. Ich rede eigentlich lieber mit Fremden. Das ist so einfach und überhaupt nicht belastend, weil man immer das erzählen kann, was einem gerade in den Kram passt. Die anderen merken es meist gar nicht, weil sie so überrascht sind, dass ich sie einfach so angesprochen habe. Das macht mir richtig gute Laune, weil alle so offen zu mir sind und sich freuen, jemand Neues kennenzulernen. Aber ich hab dann trotzdem nicht so Lust sie wirklich kennenzulernen, selbst wenn sie meist sehr nett sind, wie gesagt.
Wenn einer beschließt, sich zu verlieben, dann hat es in der Regel einen enormen Einfluss auf seine Umwelt. Da passieren Dinge, die sehr schwer zu verstehen sind, obwohl die Chemiker, Biologen, Neurologen und Psychologen dieser Welt ja bereits ausgiebige Arbeit geleistet haben, um dieses Phänomen zu erklären. Zum Beispiel weiß man, dass Liebe sich ähnlich wie Drogensucht verhält. Genauer: so als ob man die ganze Zeit Amphetamine zu sich nähme, die ja einen Überschuss von Dopamin im Gehirn verursachen. Ich weiß schon ungefähr, wie sich das anfühlt, denn ich war selbst schon ein paar Mal verliebt und Amphetamine mag ich auch. Es macht quasi keinen Unterschied.
Aber ich finde es schön, dass alle Leute jetzt zueinander finden, auch wenn ich den Boden der Weinflasche nicht erkennen kann und hier Sachen schreibe, die mir gar nicht ähnlich sehen. Wirklich, ich freue mich sehr, dass Zweisamkeit nun anscheinend zur Norm geworden ist. Paare werden nämlich immer seltener in unserem Zeitalter, das kann einem schon fast Angst machen. Und ich habe ja auch keine Probleme, denn ich bin wunderschön und auch noch sehr jung. In der Bahn werde ich ganz oft von Männern angelächelt und mein Liebesleben ist äußerst aufregend. Da geht es zwar nicht so viel um Liebe, aber mir wird häufig gesagt, wie einzigartig und verrückt ich doch sei. Das reicht mir eigentlich. Ich kann eh nicht neben jemand anderem schlafen, weil ich nicht so gerne kuschle und ich hab auch noch nie jemandem gesagt, dass ich ihn liebe. Ich hab dafür aber schon vielen Leuten gesagt, dass ich sie lieb habe und ich finde das zählt sowieso viel mehr als dieses blöde Ich liebe dich.
Am liebsten sind mir die Jungs, die mich anhimmeln oder ich schlafe mit denen, die mir leidtun, weil sie sonst niemanden bekommen oder irgendeinen schweren Schicksalsschlag erlebt haben. Vor ein paar Monaten hat mir einer erzählt, dass sein Bruder sich vor einen Zug geworfen habe und ich habe ihn gleich ins Herz geschlossen. Er war auch wirklich traurig, das konnte ich sehen. Ich weiß gar nicht, ob es ihm so gutgetan hat, mit mir zu schlafen, weil wir danach ja gar keinen Kontakt mehr hatten aber trotzdem wollte ich, dass er was Schönes erlebt. Schön war es auch, aber ab und zu bin ich traurig, weil ich ihm dadurch ein Stück von mir gegeben hab, dass er jetzt immer bei sich trägt, obwohl ich ihn gar nicht wirklich kenne und ich weiß nicht genau, was er damit macht, wenn er so alleine ist. Hoffentlich nichts Schlimmes.
Einmal, letztes Jahr im August, war da einer, der mich sehr begeistert hat, weil er solche Achtzigerjahre Sportjacken trug und auch sowieso ziemlich cool war. Ihr müsst ihn euch mit so einem kurzen Namen vorstellen, wie Nils zum Beispiel. Seine Freunde haben alle gerne Drogen genommen. Damals konnte ich das gar nicht glauben, wie selbstverständlich das für die war. Denn Nils hat mich einmal mitgenommen zu so einem versteckten Raum in einer Tiefgarage. Einer von seinen Freunden hatte da irgendeinen Kontakt, der ihm den Raum zum Poker spielen überlassen hatte und dieser Freund hat uns alle an einem Sonntagabend mit dahin genommen, nachdem wir ganz lange getanzt hatten. Ich war damals total aufgeregt, weil ich ja wusste, dass das was ganz Besonderes ist, dass Nils mich mitnimmt und es war mir auch etwas unangenehm, weil niemand so richtig wusste, wer ich bin. Ich hab gleich gemerkt, dass vor allem die Mädels mich nicht so mochten und deswegen hab ich mich die ganze Zeit mit ihnen unterhalten. Wir saßen alle auf solchen Sofas rum, die normalerweise auf dem Sperrmüll stehen würden, und da haben sie dann alle was durch die Nase gezogen oder so. Ich habe mich ein paar Minuten lang auf dem Klo versteckt, weil ich erstmal gucken wollte, wie ich überhaupt aussehe und außerdem war mir das echt peinlich, dass ich mich nicht getraut habe, auch was von den Drogen zu probieren.
Der Abend zog sich ganz schön hin und ich weiß noch, dass ich mir gewünscht hab, ich könnte die Musik bestimmen, weil die gar nicht so tolle Lieder kannten, wie ich gedacht hatte. Mir wurde dann ziemlich langweilig und ich hab mich mit so jemanden unterhalten, der mir bekannt vorkam. Als Nils das gesehen hat wurde er auf eine merkwürdige Art eifersüchtig, er hat sich dann zu mir gesetzt und sich mit mir unterhalten. Ich hab ihn ganz lieb angelächelt mit so einem Lächeln, das eigentlich jedem Mann gefällt. Schließlich hat er mich auch geküsst, was ich natürlich schön fand, aber dann haben wir gar nicht mehr aufgehört uns zu küssen und alle anderen konnten uns so dabei zusehen, dass es mir doch sehr befremdlich vorkam. Schließlich kannte mich da ja niemand und jetzt würden mich alle als das Mädchen sehen, das mit dem Nils rumgeknutscht hat. Als mir das klar wurde, bin ich sofort aufgestanden und gegangen. Ich weiß genau, wie Leute reden.
Nils hat sich dann nie wieder bei mir gemeldet und deswegen bin ich auch sehr stolz, dass ich einfach so gegangen bin. Zum Glück hatte ich meine Kopfhörer dabei, vielleicht hätte ich es sonst nie geschafft zu gehen. Wir hatten den Tag ein so wunderschönes Lied gehört, dass mich dann auf meinem Heimweg durch den Nebel getragen hat. An dem Tag ging ganz klar etwas zu Ende. Ein ganz besonderer Moment im Leben war das. Nicht wegen Nils, sondern vielmehr wegen diesem letzten schönen Sonntag. Das ist aber nicht so leicht zu erklären.

Ich habe Eltern, aber eigentlich sind es jetzt nur noch Freunde von mir, denen ich ab und zu Freude schenken muss. Vermutlich geht das allen Kindern so, dass sie eine Art Verpflichtung gegenüber ihren Eltern fühlen. Die haben sich ja Kinder gewünscht, die sie dann ihr Leben lang glücklich machen, vor allem wenn es gegen Ende alles sehr traurig wird. Jedenfalls hat meine Mama mich gerade angerufen und gefragt, was sie denn bloß mit ihrer Zeit anstellen soll, denn ihr ist immer langweilig. Sie hat keine Aufgabe und keine Ziele. Auch Freunde hat sie nicht und mein Papa ist physisch oder geistig selten da. Aber eigentlich will ich euch das nicht erzählen, weil es mich zu sehr bedrückt und ich denke auch nicht gern über die Zukunft nach.
Aber immer wieder frag ich mich, was wohl aus uns werden wird. Junge Leute sind schon interessant. Ein Puzzle für Vorangegangene und ein Vorbild für die noch nicht da gewesenen. Es ist eine ganz mächtige Position, in der wir uns befinden oder vielleicht nur anscheinend. Ich habe mal gesagt, ich wüsste nicht, ob ich schlau sei, und ich wurde gefragt, ob das nicht ziemlich schlau von mir sei. Aber in letzter Zeit denke ich oft ans Sterben und ich habe gemerkt, dass das einen lähmenden Effekt hat. Eigentlich gebe ich mir sonst Mühe, den Moment zu akzeptieren wie er ist. Etwas anderes bleibt uns ja auch nicht übrig.
Gerade habe ich beschlossen, Anna anzurufen, denn es ist immerhin Samstagabend und normalerweise gehen wir immer zusammen aus. Seitdem ich sie mal vor ein paar Wochen in der Schlange auf dem Damenklo angesprochen habe, sind wir befreundet. Sie ist einfach toll, wirklich, sie hat immer Lust was zu unternehmen. Ich glaube es ist ihr gar nicht so wichtig, mit wem sie ihre Zeit verbringt. Neulich hat sie sich auf so einer Goaparty einfach zu einer Gruppe Anthropologiestudenten gesetzt, die da so in einer Ecke gekifft haben und sich ne Stunde mit denen über Frauendarstellungen unterhalten, Mänaden oder so war das Thema. Ich habe es dann später selbst recherchiert, was das ist. Ich kam mir schon ein bisschen blöd vor, weil ich so daneben saß und bekifft mein Bier getrunken hab. Das ist eigentlich die Schuld von den anderen, denn wenn die wirklich so schlau wären, würden die wissen, wie man ein Gespräch führt ohne andere Leute auszugrenzen. Anna hat das ja auch nicht richtig gewusst, aber sie kann sich ganz gut in solchen Gesprächen verlieren und findet das dann immer alles ganz toll. Jetzt habe ich schon seit ein paar Tagen nichts von ihr gehört. Als sie ans Telefon geht, frag ich sie, was sie denn so mache. „Oh Gott“ antwortet sie, „ich bin grad bei solchen Leuten in der Wohnung, die heute da eingezogen sind und es sind überhaupt keine Möbel hier, nur ein paar Hocker und tausend Leute, komm doch auch!“ Sie sagt, sie schicke mir die Adresse und ich sage „okay, bis gleich.“

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